Freitag, 19. April 2013

Julia Franck - Rücken an Rücken

Genre: Gegenwartsliteratur
Hardcover: 384 Seiten
Verlag: S. Fischer
Erscheinungstermin: Oktober 2011
ISBN: 978-3-10-022605-1

Sternliegen nennt man es bei Herdentieren, die ihre Ruhephasen im Kreis liegend verbringen - so schützen sie die Herde, können die Umgebung in alle Richtungen beobachten und bei Gefahr rechtzeitig die Flucht ergreifen. Im menschlichen Kampf ist es eine Verteidigungshaltung in meist aussichtsloser Lage und bei übermächtigem Gegner, Rettung ist hier nur von außen möglich und ohne diese stehen Resignation, Mutlosigkeit und Aufgabe bevor. 

 Beides - Schutz und Aufmerksamkeit, Kampf und Verteidigung - liegt dem zugrunde, was die Geschwister Ella und Thomas in der DDR der 50er Jahre tun: sie versuchen ihr Leben Rücken an Rücken zu meistern. Sie wachsen ohne Nähe und Liebe im Künstlerhaushalt ihrer Mutter Käthe auf, die sich als jüdisch-stämmige und deshalb in der Nazizeit von der Kunstakademie ausgeschlossene und vertriebene Bildhauerin voll und ganz dem Sozialismus verschrieben hat. 

Zur Familie gehören eigentlich noch die Zwillinge, die aber noch zu klein, um sich wie Ella und Thomas während der längeren Abwesenheiten Käthes selbst zu versorgen, im Heim oder bei wechselnden Pflegefamilien aufwachsen. Ella und Thomas verpflegen sich selbst, putzen das Haus, räumen auf, kochen die Lieblingssuppe der Mutter in freudiger Erwartung deren Wiederkehr und in der Hoffnung, ein wenig Aufmerksamkeit oder gar Liebe von ihr geschenkt zu bekommen. Doch sie haben vergessen, dass ihnen Käthe aufgetragen hatte, die leeren Flaschen auf der Treppe wegzubringen ... 

Ella und Thomas sind elf, bzw. zwölf Jahre alt, als die Geschichte einsetzt. Sie endet kurz nach dem Mauerbau, 1962 mit einem Paukenschlag. Sie sind schutzlos dem System und den damit verbundenen Übergriffen aus den verschiedensten Richtungen ausgeliefert. Die linientreue und überzeugte Sozialistin Käthe kann sich noch nicht einmal vorstellen, dass es solche Übergriffe überhaupt geben kann. Sinnlos, ihr davon zu erzählen. Einzig die Geschwister teilen ihr Wissen - mal direkt, mal intuitiv. 

Während Ella mit Phasen von Krankheit und immer wieder aufloderndem Trotz , Widerstand und Aufbegehren darauf reagiert, zieht sich Thomas immer mehr zurück, auch von seiner Schwester. Es zieht ihn hin zu Marie, die selbst an den Umständen zu zerbrechen droht. 

Julia Franck hat sich in Rücken an Rücken wohl wieder an eine ganz persönliche, familiäre Geschichte gewagt. Die Sprache gewohnt kühl, distanziert und ausgefeilt. Der Stil typisch der ihre. Die Fähigkeit, Personen und Geschehnisse ohne Wertung lebendig werden zu lassen auf höchstes Niveau gebracht. 

Und doch erscheint Rücken an Rücken nicht so stimmig, wie Die Mittagsfrau. Es mag daran liegen, dass sie sich immer wieder der Gedichte ihres eigenen Onkels, der augenscheinlich die Vorlage für die Figur des Thomas war, bedient, um die Gefühlslage des jungen Mannes zu illustrieren. Im Verlauf des Romans häufen sich die Zitate immer mehr, was mit der Zeit redundant wirkt und einen recht manirierten Eindruck hinterlässt. 

 Die Figur der Ella ist es, die leuchtender und stärker erscheint, mehr erduldet, ohne daran zu zerbrechen und trotzig nach vorne blickt und somit dem Roman wieder Leben einhaucht. Sie sucht sich ihre Fluchten in ihrer unsteten Kreativität, die ihr eine unglaubliche Stärke verleiht. 

Käthes Gründe für die ablehnend zu nennende Haltung ihren vier Kindern gegenüber bleiben nebulös. An dieser Stelle gibt es keine Möglichkeit zu Verständnis oder Empathie, aber auch keine Wertung oder Vorwürfe. 

 Leser, die mit Julia Francks Mittagsfrau nicht warm wurden, werden es hier noch schwerer haben. Leser, die ihre Kindheit und Jugend in der DDR erlebt haben, werden sich vielleicht wiederfinden. Lesern, die dieses System nicht selbst erlebt haben, wird ein kühler fragmentarischer Einblick gewährt, der Fragen ob der möglichen Authentizität der Vorkommnisse aufwirft. Ob diese geklärt werden können, liegt am eigenen Interesse, sich über Zeit und System weiter zu informieren. Rücken an Rücken ist weder ein schönes noch ein leichtes Buch, aber eines das lange nachhallt und sich intensiv ins Lesegedächtnis gräbt.

Note: 2,66

  • Humor: -
  • Anspruch: 2
  • Spannung: 3
  • Erotik: -
  • Piratenfaktor: 3

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