Dienstag, 26. März 2013

J.R. Moehringer - Knapp am Herz vorbei

Genre: Gegenwartsliteratur
Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
Erscheinungstermin: Februar 2013
ISBN: 978-3-10-049603-4

Die Wirtschaftskrise, die nächste große Depression, sie bringt die Menschen an den Rande des Wahnsinns: Die Arbeitslosenzahlen schießen in die Höhe, Existenzen scheitern aus dem Nichts, von heute auf Morgen leiden Menschen Hunger, deren Leben eben noch in geregelten Bahnen verlief - und das mitten im Herzen der westlichen Zivilisation, in New York City. Und so ist auch nur allzu verständlich, dass der Hass auf ein System wächst, indem die Verantwortlichen für die Misere und das wachsende Elend der armen Bevölkerung, nämlich die Bankiers, Vorstandsvorsitzenden und hohen Tiere des Finanzwesens, einfach so, unbeschadet und problemlos mit ihren kapitalen Fehlern davon kommen, während eine Mehrheit von weniger Privilegierten leidet. Zähneknirschend und hilflos muss dabei zugesehen werden, wie die J.P. Morgans und Rockefellers dieser Welt reicher und reicher werden, und dabei die Fäden in einem längst ungerecht gewordenen Gesellschaftssystem ziehen, dessen Krebsgeschwür, für alle sichtbar, die Welt der Banken ist. Nun sind Wirtschaftskrisen und die Auswüchse des Bankenwesens, wie man inzwischen, ob der Omnipräsenz des Themas, fast schon vergessen mag, ja natürlich nicht nur ein Phänomen des 21. Jahrhunderts, sondern bedrückten bereits im Verlauf des beginnenden letzten Jahrhunderts die Seelen der Menschen.

In einem solchen Klima wächst auch der irischstämmige William Sutton im New Yorker Stadtteil Brooklyn, als Sohn eines Schmieds, auf. Nach der Schule scheinen nur zwei Dinge klar zu sein: Die Jobs sind rar und die Perspektiven knapp. Ergattert er, oder einer seiner besten Freunde, Happy und Eddie, dann mal einen der wenigen verfügbaren Jobs, so ist dieser lediglich von kurzer Dauer, da immer bereits die nächste Krise vor der Tür steht und Willie und seine Freunde wieder in die dreckigen Straßen ihres Viertels verfrachtet. Man hat sich fast an die vielen Niederlagen gewöhnt und erträgt diese mit Humor, bis sich plötzlich alles ändert. Als Willie und seine Freunde eines Abends ihre Zeit im flackernden Licht des Vergnügungsviertels Coney Island totschlagen, begegnet er der jungen Bess und verliebt sich Hals über Kopf. Das Problem: Bess ist ebenso hübsch, wie ihre Familie reich ist - und ihrem Vater genügt ein einfacher Junge aus Irish Town natürlich nicht im Geringsten.

Im Wahn, seiner großen Liebe gerecht zu werden, und, um manchmal auch überhaupt über die Runden zu kommen, gerät Willie auf die schiefe Bahn - immer und immer wieder: Er landet im Gefängnis, kommt wieder frei, verstrickt sich in Verbrechen und Banküberfälle und landet im Gefängnis, kommt wieder frei - und so weiter. Mit den Jahren avanciert Willie "The Actor", wie ihn die Presse inzwischen nennt, in der öffentlichen Meinung zu einem modernen Robin Hood, einem Gentleman-Gangster, der sich vor allem durch seine Verkleidungen, seinen Einfallsreichtum und seinen Hang zur Gewaltlosigkeit auszeichnet.

Moehringers - auf wahren Begebenheiten beruhender - Roman, mit dem zugegeben bescheuerten deutschen Titel "Knapp am Herz vorbei", setzt jedoch im Jahr 1969 an. Nach Jahrzehnten im Gefängnis wird der inzwischen 68-jährige Willie Sutton, alt und von Krankheit gezeichnet, am Weihnachtsabend begnadigt und ist nun tatsächlich ein freier Mann. Das Medienecho ist enorm, doch Sutton gewährt nur ein einziges Interview: Für einen Tag besucht der pensionierte Bankräuber, begleitet von einem Reporter und einem Fotografen, die Schauplätze seines bewegten Lebens und kehrt in die Straßen eines New York zurück, dass es so nur noch in seiner Erinnerung zu geben scheint.

Auch in seinem zweiten Roman beweist der Pulitzer-Preisträger Moehringer ein erstaunlich charmantes Gespür für die Geschichten der Gescheiterten, der Verlierer und der schummrigen Gestalten am Rande der Gesellschaft. Immer wieder lässt Moehringer die Grenzen zwischen verklärtem Mythos und Realität verschwimmen - so sehr, dass selbst der Protagonist dieses fiktiven Portraits manchmal zu vergessen scheint, wie sich die Dinge denn wirklich zugetragen haben.

Ein gutes, ein gelungenes Buch über die Kehrseite des American Dream, die tückische Magie des organisierten Verbrechens im letzten Jahrhundert und über das Leben eines Mannes, der zu seiner eigenen Legende geworden ist.

Note: 2

  • Humor: 3
  • Anspruch: 2
  • Spannung: 2
  • Erotik: 2
  • Piratenfaktor: 1

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